Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, und der britische Historiker Timothy Garton Ash diskutierten am 27. Oktober 2016 im Thalia Theater Hamburg über die Redefreiheit und ihre Grenzen – nicht nur im Internet
Anlass der Debatte war Garton Ashs Buch Redefreiheit, an dem er nach eigenen Angaben zehn Jahre lang gearbeitet hat und das jetzt auf Deutsch erschienen ist.
Die Debatte war keine, in der die Diskutanten grundsätzlich unterschiedliche Standpunkte innehätten. Vielmehr waren sich Garton Ash und Schulz darin einig, dass Meinungsfreiheit für liberale Demokratien entscheidend ist, da sich politischer und gesellschaftlicher Fortschritt aus Rede, Gegenrede und Kompromiss speist. Genauso einig waren sie sich aber auch darüber, dass Redefreiheit Grenzen hat und dass die liberalen Demokratien in der Krise sind. Diese Krise manifestiert sich für Schulz und Garton Ash nicht zuletzt an der Redefreiheit. Denn diese Redefreiheit wird im Internet genutzt, Hassbotschaften gegen Gruppen und Individuen zu verbreiten, um sie zum Schweigen zu bringen.
Meinungsfreiheit: Wie soll freie Rede sein? Wie frei soll die Rede sein?
Was die Diskussion aber interessant machte, waren die unterschiedlichen Zugänge zum Thema: Garton Ash verfolgte den des Forschers und intimen Kenners der deutschen und europäischen Geschichte, Schulz den des Politikers, der täglich mit Redefreiheit und ihren Grenzen umgehen muss. Auch er gehört zu den Menschen, die täglich Kritik und Hassbotschaften im Internet erhält. Das hält er in gewissem Rahmen normal und für den Teil seines Berufs als Politiker. Für Menschen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, sieht er das nicht. Für sie sollte das Internet ein sicherer Ort der Redefreiheit sein – zumal die meisten Menschen einfach friedlich leben wollen. Dazu gehört selbstverständlich, nicht gemobbt oder beleidigt zu werden unter einer vermeintlichen Redefreiheit. Hierbei findet die Redefreiheit offensichtlich ihre Grenzen.
Die Redefreiheit und was von ihr gedeckt ist, wird laut Garton Ash und Schulz von drei Elementen der Gesellschaft definiert. Dem Staat, der Zivilgesellschaft und dem, was Garton Ash „private Supermächte“ nennt. Das sind all die Unternehmen, die durch ihre Marktmacht und durch ihre Fähigkeit Daten zu erfassen, zu verarbeiten und Marktdurchdringung sich nicht ohne weiteres einer staatlichen Regulation unterwerfen lassen. Namentlich facebook und Google, aber auch Amazon und Apple.
Bedarf für globalen, transkulturellen Regeln
Diese Konstellation aus Staat, Zivilgesellschaft und „privaten Supermächten“ ist neu. Die Herausforderung, dass sich Gesellschaften bei neuen Gegebenheiten neue Regeln geben müssen, ist hingegen so alt wie die Menschheit. Während beispielsweise antike Gesellschaften nur sich Regel geben mussten und sich etwa die „10 Gebote“ gegeben haben, stehen wir laut Schulz und Garton Ash vor der Herausforderung, Regeln für die Redefreiheit zu definieren. Die Herausforderung dabei ist jedoch, dass die neuen Normen global sein müssen wie die Kommunikation im Netz selbst. Nur sind gesellschaftlichen Normen weltweit durchaus unterschiedlich.
Redefreiheit darf kein „Veto der Mörder“ bedeuten
Innerhalb der westlichen Gesellschaften, aber nicht nur in ihnen, ist zu verhindern, so Schulz und Garton Ash, dass es ein „Veto der Mörder“ gibt. Damit ist gemeint, dass Menschen die Redefreiheit nutzen, um Vertreter ihnen missliebiger Positionen zum Schweigen zu bringen. Dass sie Kommunikation und den Austausch von Ideen und Positionen unterbinden, indem sie mit Gewalt und Tod drohen. Die Antwort von Garton Ash und Schulz auf diese Herausforderung im Internet ist die Solidarität der Menschen. Hierfür haben sie das Stichwort der „robusten Zivilität“ eingeführt. Damit ist gemeint, dass wohlmeinende Menschen den Opfern beispringen und so die Redefreiheit gegen verteidigen. Idealerweise zeigen auch Medienunternehmen die Solidarität, doch ist diese durch die Konkurrenz untereinander eingeschränkt.
In Gesellschaften ohne Redefreiheit plädiert Garton Ash für Offenheit für andere Ideen – offen zu sein, öffne den Dialog. In einem zweiten Schritt sei es dann auch möglich, das westliche Verständnis von Redefreiheit zu vertreten.
Rede, Gegenrede und Kompromiss als konstitutiv für liberale Demokratie
Gerade weil Garton Ashu und Schulz die liberalen Demokratien und das europäische Projekt in einer tiefen Krise sehen, halten sie die Meinungsfreiheit für konstitutiv.
Garton Ash schloss den Abend mit einem Perikles-Zitat: „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit; das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.“ Dem ist nichts hinzuzufügen und es ist als Aufforderung zu verstehen, die „robuste Zivilität“ zu leben: Dem Hass im Netz entgegenzutreten mit humanen, aber deutlichen Argumenten.